Abschied von Danzig
Versuch eines Reiseberichtes
Mittwoch der 20.September 2000
Kurz nach 17.00 Uhr legt das Fährschiff "Rogalin" in Nynäshamn, etwa 50 km
südlich von Stockholm gelegen, ab. Destination: Gdansk. Oder segeln wir nach
Danzig? Noch weiss ich es nicht.
An Bord: ich mit unseren zwei Söhnen, Jan und Thomas, die unbedingt sehen wollen,
wo ihr Vater geboren und aufgewachsen ist. Oder haben sie es nur gesagt, um mich
zu bewegen, die seit langem aufgeschobene Reise nun doch zu machen? Fahren sie
mit, um mir Mut zu machen und mich seelisch zu unterstützen, wenn ich nun nach
fünfundfünfzig Jahren wieder die alte Heimat sehen werde? Oder wollen sie sowohl
sehen wie auch mir Stütze sein? So wird es wohl sein.
Nach einer Stunde - wir haben das Danziger Gatt schon lange auf unserer
Backbordseite hinter uns gelassen - nehmen wir im Speisesaal Platz, um mit einem
zwei Gänge Menu mit Bier & Wein & Kaffee & Cognac den Anfang unserer Reise
in die Vergangenheit zu feiern. Wir essen lange und gut.
Donnerstag der 21.September 2000
Thomas und ich schlafen - wie immer - lange. Jan, der bei der schwedischen Marine
gedient hat, ist früh aus der Koje gekrochen, um auf Deck eine frische Briese und die
befreiende Weite des Meeres zu geniessen. Die See ist spiegelblank. Der Himmel
wolkenfrei. Die Sonne strahlt.
Pünktlich läuft die Fähre in Nowy Port ein und legt um 11.30 Uhr gegenüber der
Westerplatte an. Wir rollen von Bord. Die Passkontrolle ist schnell erledigt. Der
Zöllner will wissen, ob wir etwas zu verzollen haben, und will unsere Pässe sehen. Er
schaut in meinen und sagt freundlich: "Oh, from Danzig?". Und ich antworte: "Yes.
But that's long ago." Lachend winkt er uns durch.
Wir memorieren die Strassen, die wir nach Zoppot fahren wollen. Jan fährt, damit ich
mehr sehen kann. Wir rollen durch Brösen. Brzezno heisst es jetzt. Biegen rechts ab.
Nach einigen Ampeln macht die Strasse einen Bogen und wir biegen wieder rechts ab.
Hier müssen früher einmal der Rothof und der Schwarzhof und der Weisshof gelegen
sein. Ich erkenne nichts wieder. Starre auf Wohnblöcke stalinistischer Architektur,
wie ich sie in Vorstädten von Moskau gesehen habe. Wir haben uns verfahren. Wir
sind in Przymorze. Hierfür gibt es keinen deutschen Namen. Wir fahren zurück nach
Süden, in Richtung Gdansk. Biegen rechts ab und gelangen auf die Danziger
Chaussee, die heute aleja Grunwaldzka heisst. Wir fahren nach Norden und halten in
weniger als 30 Minuten vor dem Grand Hotel in Sopot an, wo wir drei Nächte
wohnen werden. Kaum haben wir uns in unseren Zimmern installiert, so werde ich
kribbelig. Die Jungens verstehen mich. Ich will in die Badestrasse, wo wir zuletzt
wohnten. Aus der ich Ende Januar 1945 auf einem Wehrmachts-Lkw floh. Sie liegt
schräg vis-à-vis vom Hotel. Zwischen dem Casino Hotel und dem Kurhaus sind wir
immer zu "unserem" Korbstuhl am Strand gegangen. Ich brauche keinen Stadtplan.
Und so stehe ich vor dem Eckhaus Badestrasse/Victoriastrasse. Die gleiche Farbe wie
1945. Der gleiche Putz wie 1945 - nur ist etwa ein Drittel des Putzes abgebröckelt. In
dem früheren Milchgeschäft ist jetzt eine Wechselstube. Der Vorgarten vor unserer
früheren Wohnung ist weg. Durch die Kellerfenster schüttet man heute offensichtlich
die Kohlen in die Keller. Das Landhaus vis-à-vis steht noch da. Ja, alle
Nachbarhäuser - mit Ausnahme von Onkel Max' Haus nebenan - stehen noch da, wie
vor 55 Jahren. Einige sind neu angemalt, andere nicht. Langsam gehen wir durch die
Victoriastrasse in die Seestrasse.
Die Seestrasse - heute Bohaterow Monte Cassino - von der Victoriastrasse bis zur
Nordstrasse ist völlig verändert. Zwei ganze Viertel fehlen, glaube ich. Ich meine
auch, dass es hier auf der rechten Seite zum Wasser hin früher eine Konditorei gab, in
welcher man die Reichsdeutschen 1938 daran erkannte, dass sie immer doppelte
Portionen mit Schlagsahne bestellten, nachdem Göring ihnen Kanonen anstelle von
Butter versprochen hatte. Auf der anderen Seite der Nordstrasse fehlt das Spielkasino.
Wir gehen die Seestrasse hinauf in Richtung Unterführung. Wir sind hungrig und
wollen Mittag essen. Nein: Lunch (in Schweden isst man Mittag am Abend). Wir
finden auf der linken Seite ein kleines, gemütliches Lokal namens Herman. Thomas
bestellt russische Pirogen, ich Hering. Jan schliesst sich meiner Wahl an. Er entsinnt
sich noch des Herings, den seine Oma immer machte: mit Zwiebeln und Äpfeln in
saurer Sahne. Und mit Pellkartoffeln. Der Hering ist gut, jedoch fehlen die
Lorbeerblätter und die Gewürzkörner. Die Kartoffeln sind in Folie gebacken. Nichts
ist wie bei Muttchen.....
Wir gehen weiter. Auf der rechten Seite, Ecke Seestrasse / Wilhelmstrasse, wohnte
ein Schulfreund von mir: Axel; den Nachnamen habe ich vergessen. Das Haus steht
und ist gut unterhalten. In der nächsten Querstrasse wohnte ein anderer Schulfreund:
Peter Bähre. Sein Vater war Arzt. Noch eine Querstrasse weiter wohnte Ulli M, der
beste Freund meines Bruders. Er wurde später Arzt. Wir gehen durch die
Unterführung bis zur Danziger Strasse, später Adolf-Hitler-Strasse, heute aleja
Niepodleglosci. Die Häuser der oberen Seestrasse sind die meiner Jugendzeit. Hier
bin ich jeden Tag von 1940 bis Ende 1944 zur Schule gegangen. Doch ist die
Seestrasse viel kürzer als ich sie in Erinnerung hatte.Wir drehen um und gehen die
Seestrasse zurück zum Seesteg. In den Wandelhallen links und rechts vor dem
Seesteg sind Verkaufsstände wie auf einem Flohmarkt. Die waren zu meiner Zeit
undenkbar. Hier WANDELTE man oder sass auf einer Bank und schaute sich die
WANDELNDEN an und hörte vielleicht der Musik des Kurorchesters zu. Na ja, ich
bin da kaum gewandelt, aber doch schon dann und wann mit Eltern und Geschwistern
spazieren gegangen, stets darauf hoffend, dass die Eltern uns in der Eisdiele ein
italienisches Eis kaufen würden.
Wir gehen auf den Seesteg. Es weht ein leichte Briese und die Wellen brechen sich
über den Sandbänken und am Ufer. Strahlender Sonneschein. Es ist herrlich. Ich fühle
mich wieder wie ein Bowke. Ich zeige den Jungens, von wo wir Bowkes in die See
getaucht sind, um die Geldstücke zu fischen, welche Turisten zu ihrem Spass und
unserer Freude in die See warfen. Wir gehen bis zur äussersten Spitze. Die Bänke auf
dem Wellenbrecher liegen in Lee. Jeder Platz ist besetzt. Alle laben sich an der
Sonne.Der Seesteg ist recht gut unterhalten, auch wenn die eine und andere Bohle
erneuert werden sollte. Weiter draussen ist er ein wenig klumpig mit Beton und Eisen
repariert. Alle Geländer sind schön weiss gemalt.
Langsam gehen wir in Richtung Hotel. Jan schaut sich an einem Stand in der
Wandelhalle eine echte Lederweste an, die zum Teil aus Skai besteht. Jan kauft
nichts.Später am Abend gehen wir in der Seestrasse in ein kleines Restaurant, in dem
es nur Speisekarten auf polnisch gibt. Wir sind die einzigen Touristen im Lokal. Der
Kellner übersetzt, erklärt, empfiehlt. Wir entscheiden uns für Ente auf polnische Art.
Dazu ein schönes Hewelius-Bier. Oder waren's zwei?
Freitag der 22.September 2000
Jan und Thomas wollen unbedingt die Marienburg sehen. Ich schliesse mich gerne
ihrem Wunsch an. 1943 war ich das letzte Mal dort. Zusammen mit meinem Vater.
Ich kann mich jedoch nur vage an die Burg erinnern. Mächtig war sie.
Kurz hinter dem Hauptbahnhof in Danzig verfahren wir uns. Anstatt nach Lodz
fahren wir in Richtung Warszawa. Dann kommt ein Schild: Elblag. Elbing!!! Ich
weiss, dass wir auf der falschen Strecke sind, hatte jedoch kein Schild nach Tczew
(Dirschau) gesehen. In der Niederstadt reparieren wir den "Schaden". Biegen rechts
in die ehemalige Weidengasse, durch die Sperlingsgasse in den Thornschen Weg und
so auf die Strasse nach Dirschau. Wir fahren durch die Danziger Höhe. Durch Dörfer
und Städtchen. Die polnischen Namen sagen mir gar nichts. Ich habe meine Karte
über den Freistaat vergessen. Wir umfahren Dirschau, überqueren die Weichsel und
fahren durch das Werder. Ich zeige den Jungens in welcher Richtung Pordenau und
Barendt liegen, wo mein Opa und Onkel Willi lebten und wo ich viele Sommerferien
verbrachte. Wir werden nicht hinfahren.
In Malbork angekommen finden wir sofort zur Marienburg, so mächtig ist sie. Neben
dem Parkplatz in einer Art Zeltkiosk bestellen wir drei Kaffee. Wegen der Nullgrenze
in Polen. Wir bekommen den Kaffee in Papierbechern. Es ist sicher der schlechteste
Kaffe in ganz Polen. Eine Mischung von Jauche und Teer. Ein gutes Argument gegen
die Nullgrenze.
An der Kasse steht etwas von Führungen und von wo diese ausgehen. Da ich seit gut
sechzig Jahren allergisch bin gegen Führer, stellen wir uns nirgends an, sondern
gehen zu dritt über Zugbrücke und durch Tore ins Mittelschloss. Die Mächtigkeit des
Grossmeisterpalastes, die schlichte Schönheit der gotischen Architektur des
Ostflügels, der Blick auf das Hochschloss - alles ist überwältigend. Wir geniessen zu
dritt - ohne etwas zu sagen. Ohne das ein Führer die Schönheit zerquasselt.Bevor wir
in das Hochschloss gehen, gehen wir durch den Trockengraben, der um das
Hochschloss läuft. Sozusagen gegen den Strom. Um nicht in das "Kielwasser" der
geführten Gruppen zu geraten. Im östlichen Trockengraben finden wir einige
mennonitische Grabsteine, die man hier gesammelt hat. Leider kann ich die Texte
nicht entziffern. Kommt irgendeiner aus Pordenau, wo Opa die mennonitische
Kapelle betreute und den Friedhof pflegte? Ich glaube es nicht.
Wir betreten durch das mächtige Portal des Eingangtores das Hochschloss. Wieder
diese vollendete gotische Baukunst, die wunderschönen Fensterdurchbrüche des
Kreuzganges. Dort wollen wir hin. Und dort, in der Südecke des Hofes neben der
Treppe zum Kreuzgang, hängt ein Photo: Die Marienburg, wie sie 1945 nach der
"Befreiung" des Schlosses durch die Rote Armee aussah. Einen Vorgeschmack hatten
wir schon auf dem Hof des Mittelschlosses bekommen: Die Löcher der
Gewehrkugeln in den bronzenen Statuen der Grossmeister. War diese Zerstörung eine
verspätete Rache für die (Un)taten des Deutschen Ordens, welcher von dem
polnischen König im dreizehnten Jahrhundert ins Land gerufen wurde, um die
Pruzzen (Preussen) zu unterdrücken? Zu taufen, hiess es damals. Rechneten sich die
Nachkommen der Pruzzen später nicht zu den Deutschen?
Wir gehen durch die Kreuzgänge, durch Refektorium und Kapitelsaal, durch Küche
und Bäckerei, wir gehen in den Gdansker, wir bewundern die goldene Pforte der
Schlosskirche, wir besteigen den Turm, wobei wir in die Schlosskirche, die Kirche
der Allerheiligsten Muttergottes, einsehen können, welche noch nicht
wiederhergestellt ist. Vom Turm aus bestaunen wir die Grösse dieses einmaligen
gotischen Bauwerkes. Als wir das Schloss verlassen und zum Auto gehen, denke ich
wieder an das Photo der zerstörten Marienburg und mir wird klar: Dieses ist nicht
"meine" oder "unsere" Marienburg, dieses ist die Marienburg der Polen, die sie mit
sehr viel Liebe, grosser Ausdauer und unter viel Entbehrungen wieder aufgebaut
haben. Es ist eine einmalige kulturelle Arbeit, die die Polen geleistet haben.
Auf dem Weg zurück nach Zoppot findet Jan hinter Dirschau die Autobahn, an der
ein grosses Einkaufszentrum liegen soll. Wir finden es. Das grösste Kaufhaus soll
Auchan heissen und 72 Kassen haben. Während Jan und Thomas einkaufen gehen,
lege ich mich ins Auto, um zu schlafen. Ich mag keine Einkaufszentren. Als Jan und
Thomas mich eine Stunde später wecken, haben sie unter anderem achtzig Flaschen
Hewelius-Bier gekauft. Das gibt's bei uns nicht.
Später essen wir in Zoppot in der Nähe der Unterführung gut, teuer und italienisch.
Sonnabend der 23.September 2000
Das Wichtigste haben wir uns für heute aufgespart: Danzig. Nach einem grossen
Frühstück fahren wir los. Ohne uns zu verfahren finden wir direkt zum Parkplatz
neben der St Katharinen Kirche. Pro Stunde 2,30 Zloty. Für einen Stockholmer ist
das "geschenkt" auf einem bewachten Parkplatz. Wir gehen durch die Kleine
Mühlengasse, die Junkergasse - in der Dominikgasse ist Markt, durch den wir uns
drängen, hin und zurück - durch die Breitgasse und die Goldschmiedegasse in die
Korkenmachergasse. Unser Ziel: Die Marienkirche.
Unbewusst hat es mich am stärksten hierher gezogen. Geht es nur mir so? Oder geht
es allen Alt-Danzigern so? Ist die Marienkirche das wichtigste Symbol unserer alten
Heimat? Kein Kaiser, kein König baute sich eine so gewaltige Backsteinkirche wie
die stolzen & freien Hanseaten an der Weichselmündung. Wie war ihr Wahlspruch?
NEC TEMERE NEC TIMIDE (Weder verwegen, noch ängstlich). Nein, sie waren
nicht verwegen. Geschickt nutzten sie mal den Orden, mal die polnischen Könige und
mal auch den schwedischen König aus. Aber sie waren auch nicht ängstlich. Kaperte
nicht Paul Beneke 1473 im englischen Kanal eine Galeere und brachte Hans
Memlings "Jüngstes Gericht" in seine Heimatstadt Danzig.
Zum "Jüngsten Gericht" zieht es mich. Ich finde es (eine Kopie; das Original hängt
im Nationalmuseum in Danzig) in einer Seitenkapelle, zusammen mit der Pieta von
1410. Das "Jüngste Gericht" von Memling gehört für mich, zusammen mit Matthias
Grünewalds "Kreuzigung" im Isenheimeraltar und Bernt Notkes Skulptur "Sankt
Göran och draken" in der Grosskirche (Storkyrkan) in Stockholm, zu den schönsten
Kunstwerken.
Schweigend wandern wir weiter unter dem riesigen Gewölbe. Bewundern Altäre, die
Kanzel, die astronomische Uhr. Während Jan und Thomas die fast vierhundert Stufen
des Turmes emporsteigen, setze ich mich in eine Bank und lasse ich mich ganz von
der Mächtigkeit des Domes einfangen.
Durch die Grosse Krämergasse kommen wir auf den Langen Markt. Der Artushof ist
geschlossen. Ich frage zwei Mädchen, warum. Sie wissen es nicht. Sind Touristen aus
Warszawa. Wir setzen uns vor einer Bierstube in die Sonne. Jeder mit einem schönen
Hewelius vom Fass. Vor Kaffee achten wir uns. Und wir bewundern die herrlichen
Fassaden der alten Patrizierhäuser. Und auf einmal denke ich an den Film, den Bodo -
oder wer war es? - empfohlen hatte: "Danzig - Fassaden einer alten Stadt". Und ich
entsinne mich an das Bilderbüchlein auf polnisch, welches mir meine Sekretärin vor
über dreissig Jahren geschenkt hatte, als sie einmal Urlaub in Zoppot machte:
"Gdansk 1945-1965". Immer: links ein Photo von 1945 und rechts die gleiche
Ansicht 1965. Links nach der "Befreiung" Danzigs durch die Rote Armee, rechts
nach dem Aufbau durch die Polen. Zum Beispiel: Plac Dlugi Targ. Hier sitzen wir
jetzt. Und mich schlägt wieder der Gedanke: dies ist nicht mehr "mein" Danzig, es ist
das Gdansk der Polen. Auch Gdansk haben SIE wieder aufgebaut. Mühsam,
sorgfältig, sicher unter Entbehrungen, mit ihren blossen Händen. Man sah es im Film.
Die Polen lassen uns gastfreundlich teilhaben. Aber es ist ihr Gdansk.
Wir gehen durch das Grüne Tor und biegen links ab auf die Lange Brücke. Dort,
Lange Brücke 11, hängt ein Schild über einem Laden mit Touristensouvenirs: in der
Mitte das Danziger Wappen, links davon steht "Danziger Bowke" geschrieben, rechts
davon "Gdanski Bowka". Ich frage die Verkäuferin auf Englisch, was denn "Bowka"
bedeutet. Sie weiss es nicht. Wie könnte sie auch.
Wir schlendern die Lange Brücke entlang: Brotbänkentor, Frauentor, Heiligen-Geist-
Tor, Krantor, Johannistor, Häkertor, Fischmarkt. Am Kai der Mottlau liegt ein
Patrouillenschiff der französischen Marine aus der Normandie. Der "Sailor" in Jan
kann es nicht lassen. Er will sich das Schiff 'mal ansehen. Er spricht die jungen
Seeleute auf breitem Amerikanisch an; sie antworten ihm holpernd. Englisch ist nicht
ihre starke Seite. Ich spucke in die Mottlau...
Langsam gehen wir zurück. Biegen durch das Krantor in die Breitgasse. Ich zeige den
Jungens "Den Lachs". Wir kehren nicht ein. Gehen durch Zwirngasse, Frauengasse,
Pfaffengasse auf den Langen Markt zurück. Langgasse. Das Rathaus ist geschlossen.
Das Uphagenhaus ist noch auf. Wir klingeln an der Tür und schauen es uns für fünf
Zloty pro Kopf an. Wir kommen zum Goldenen Tor: "ES MVSSE WOL GEHEN
DENEN DIE DICH LIEBEN - ES MVSSE FRIEDE SEIN INWENDIG IN
DEINEN MAVERN VND GLVCK IN DEINEN PALATSEN" steht dran. Wir
schauen uns noch Stockturm und Hohes Tor an. Auf dem Kohlenmarkt trinken wir
eine Cola bevor wir langsam in Richtung Parkplatz und Auto gehen. Thomas will
unbedingt die Westerplatte sehen.
Auf dem Weg zur Westerplatte, dort wo wir die E77 nach Elbing verlassen und in das
einbiegen, was einmal Breitenbachstrasse hiess, sehen wir das Langgarter Tor. Es war
das östlichste Tor Danzigs. Dahinter, zur Stadt hin, lag Langgarten und auf
Langgarten die Firma meines Opas: die Ernst Weigle GmbH. Wir haben uns nie
gesehen, Opa Ernst und ich. Er starb auf See, als er 1931 aus den USA nach Hause
reiste. Aber das Schild seiner Firma hing noch immer dort, bis 1945. Wir sahen es
immer, wenn wir vom Vorortbahnhof zum Kleinbahnhof fuhren. Der Kleinbahnhof ist nicht mehr.
Auf der Westerplatte gibt's nicht viel zu sehen. Ein paar Brocken armierter Beton, die
Ruine eines Gebäudes, einen russischen T4-Tank auf einem Sockel, einen
symbolischen Friedhof und eine Gedenktafel der polnischen Verteidiger. Und
natürlich ein Monument, über dessen künstlerischen und symbolischen Wert man
diskutieren kann. 7 Tage hielten sie aus, die Verteidiger der Westerplatte. So, das
Monument kann natürlich ihr Heldentum symbolisieren. Ich entsinne mich noch an
den 1. September 1939 und die Tage danach. Als die Kanonen des Panzerschiffes
Schleswig-Holstein von der Danziger Bucht her donnerten. Andere Kanonen, meine
ich, standen zwischen Langfuhr und Zoppot. Und bisweilen schossen auch die Polen
über unsere Köpfe hinweg. So für mich symbolisiert die Westerplatte und ihr
Monument den Wahnsinn: den Wahnsinn des Krieges.
Sonntag der 24.September 2000
Unser letzter Tag. Wir gehen am Warmbad vorbei zum Südpark. Auf einmal ist dort
eine Kirche, an die ich mich anfangs gar nicht entsinnen kann. Aber es muss sie
schon zu meinen Zeiten gegeben haben und langsam - ganz vage - erinnere ich mich.
Wir kommen in die Südbadstrasse (heute Kordeckiego). Dort in der Nr 2 ist mein
Schwesterchen 1934 geboren. Und dort warfen uns die Nationalsozialisten 1935 die
Fenster mit Ziegelsteinen ein oder bemalten die Fenster mit "Wählt Liste 1". Nur
weil mein Vater bei den Volkstagswahlen für die SPD kandidierte.
Wir gehen um die Ecke: Parkstrasse 20 (heute Parkowa). Hierhin müssen wir im
Herbst 1935 gezogen sein. Ich entsinne mich. Es muss im Frühjahr 1936 gewesen
sein, als ich meinem älteren Bruder und seinen Freunden folgte, um Schollchen
(Eisschollen) zu fahren. Und ein Mal hüpfte ich zu kurz. Mein Bruder sckickte mich
nach Hause, in die Parkstrasse. Ich solle sagen, dass ich in eine Pfütze gefallen sei. In
eine Pfütze! Wo die Danziger Bucht voller Eisschollen war. Mich steckten die Eltern
ins Bett. Vorsorglich! Als mein Bruder nach Hause kam, erhielt er den Auftrag, sich
zu mir ans Bett zu setzen und mir Märchen vorzulesen, da ich doch nicht spielen
konnte aufgrund meines Sturzes in eine Pfütze...
Vis-a-vis steht noch das Haus, wo die Familie Franz wohnte, mit deren Sohn mein
Bruder spielte. Ich durfte zuschauen, wenn sie sich mit ihren Viking-Modellschiffen
Seeschlachten lieferten. Die Parkstrasse 20 ist heute schön renoviert und neu gemalt.
Das Franzsche Haus ist so grau wie 1936....
Ich entsinne mich, dass ich aus dieser Zeit ganze zwei Photos habe. Auf dem einen
sitzen wir auf einer Bank im Südpark: meine Mutter mit Schwesterchen im Schoss,
mein Bruder, der kleine Judenjunge, mit dem ich immer spielte und der eines Tages
verschwunden war, ich im Matrosenanzug und noch ein Junge. Ist es der Franzsche?
Auf dem anderen Photo sitze ich in Matrosenanzug auf einem Esel und "reite", d. h.
der Esel wird geführt. Die beiden Aufnahmen sind am gleichen Tag gemacht worden.
Und etwas traurig werde ich mir bewusst, dass ich aus diesen Jahren - von 1930 bis
1945 - nur elf Photos in meinem Album habe: fünf davon mit mir und ein
Klassenphoto von 1940 von der Horst-Wessel-Oberschule.
Wir gehen durch die Südbadstrasse zur Strandpromenade. Das Südbad hat man in ein
Hotel umgebaut. Weiter die Strandpromenade entlang in Richtung Glettkau. Hier
irgendwo lag die Kinderheilanstalt, in der Peter Bähres Vater Arzt war. Ich finde sie
nicht - ich suche aber auch nicht ernsthaft nach ihr. Wozu?
Wir holen unser Auto vor dem Hotel ab und fahren die Nordstrasse (Powstancow
Warszawy) nach Norden. An der Villa des Zuckerkönigs vorbei. Finden nicht zum
Bergschlösschen. Fahren in Richtung Gdynia. An Orlowo (Adlershorst) vorbei, wo
damals ein anderer Freund von mir, Manfred Wiltraut, wohnte.
Kurz vor Gdynia drehen wir um. Ich schlage den Jungens vor, dass wir noch die
Kathedrale von Oliwa besuchen. Hier, im Kloster Oliwa, wurde im Mai 1660 Friede
geschlossen zwischen auf der einen Seite Schweden und der anderen Seite Polen,
Brandenburg und dem deutsch-römischen Kaiser. Johan II Kasimir von Polen
verzichtete auf sein Erbrecht auf die schwedische Krone und auf Livland; die
Brandenburger bekamen die völlige Oberhoheit über Ostpreussen. Von hier "nahm"
der schwedische General Carl Gustaf Wrangel auch einen barocken Altaraufsatz, ein
barocken Predigtstuhl (Kanzel), ein barockes Taufbecken und eine geschnitzte
barocke Heiligenfigur mit, erzähle ich den Jungens.
In der Kathedrale wird eine Messe gehalten. Wir hören zu, ohne zu verstehen.
Thomas findet an der Wand eine Tafel mit der Geschichte der Kathedrale auf
Englisch. Später, als wir am Rokokoschloss vorbei in den Park Oliwski gehen, erzählt
er, dass laut dem Text der Tafel die Schweden nicht nur Altar, Kanzel, Taufbecken
und Heiligenfigur mitnahmen sondern auch einige Mönche. Das wusste ich noch
nicht...
Wir fahren nach Nowy Port. Die Strecke zum Fährschiff ist gut ausgeschildert. In
guter Zeit vor Abfahrt - neunzig Minuten sind vorgeschrieben - stellen wir uns in die
Schlange, die noch keine Schlange ist. Wir sind die ersten. Und als erste rollen wir an
Bord des Fährschiffes M/F "Silesia". Ich gehe auf das Achterdeck und knipse die
letzten zwei Aufnahmen auf meinem Film: das Monument auf der Westerplatte.
Pünktlich um 18.00 Uhr legt das Schiff ab. Wir sitzen im Speisesaal mit einer
fantastischen Aussicht über das Vorschiff und den Bug. Wie jeden Tage scheint die
Sonne, der Himmel ist noch immer wolkenfrei, das Meer wieder spiegelblank. Wir
segeln nach Norden, nach Stockholm, nach Hause.....
Ich denke zurück an drei schöne Tage in Sopot, Malbork und Gdansk. Und ich denke
auch an das mir liebste Gedicht, das mir schon jahrzehntelang immer wieder Trost &
Kraft gibt: Herrmann Hesses "Stufen" aus dem "Glasperlenspiel":
----------------------------------------------
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In neue, andre Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Es will uns Stuf um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde.
----------------------------------------------
Adieu Zoppot, Adieu Danzig.